Rede von Horst Vetter zum 09.11.2022 in Betzdorf

„Nicht ein Blitz aus heiterem Himmel entzündete am 9. November 1938 die Synagogen in Deutschland“, so
schreibt Carola Stern in ihrem Buch „In den Netzen der Erinnerung.“
Nein, der Judenhass der Nazis hatte eine sehr lange Vorgeschichte, die bis in die Frühzeit des Christentums zurückreicht.
Es war ein christlicher Bischof, Melito von Sardes, der um 160 n. Chr. als erster öffentlich behauptete: „Gott ist ermordet worden“. Damit war die Parole: „ Die Juden sind das Volk der Gottesmörder“ in die Welt gesetzt.
Bekanntlich laden im Matthäusevangelium, die Juden die Schuld am Tode Jesu freiwillig auf sich und verfluchen sich angeblich selbst: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“
Und Jesus soll zu den jüdischen Führern, den Hohepriestern, gesagt haben: „Das Reich Gottes wird euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt“. (Mt. 21,43)
Das hieß: Nicht mehr die Juden, sondern die Christen sind nun das Volk Gottes.
Die Juden traf nach dieser Erzählung eine „Erbschuld“, die jeden einzelnen Juden betraf und die seit dem frühen Christentum im Mittelalter bis zur Zeit des Nationalsozialismus antijüdische Verfolgungen gerechtfertigt hat.
Besonders verhängnisvoll waren die Hasstiraden Martin Luthers.
In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ rief er zur Zerstörung alles Jüdischen auf und empfahl, kein Mitleid mit ihnen zu haben, sondern sie zu vernichten.“ Luthers Judenhass fand im neuen deutschen Kaiserreich nach 1871 großen Anklang.
Wibke Bruns hat in ihrem Buch „Meines Vaters Land“ aufgezeigt, wie die sogenannte gutbürgerliche Gesellschaft des Kaiserreiches durch und durch nationalistisch, militaristisch und antisemitisch eingestellt war.
Der Hofprediger Adolf Stoecker – nach ihm ist heute noch eine Straße auf dem Rosterberg in Siegen benannt – gründete sogar eine erste ausdrücklich antisemitische Partei – die Christlich-Soziale Arbeiterpartei. Stoecker hatte großen Einfluss auf die Hohenzollern-Familie, besonders auf den Kronprinzen Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm II. Dieser machte die Juden für seinen Sturz in der Novemberrevolution 1918 verantwortlich. „Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht, bis diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind!“
In einem Brief an einen amerikanischen Freund schreibt er:
„Die Presse, Juden und Mücken (…) sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. Ich glaube, das Beste wäre Gas.“
Selbst der Hitler-Attentäter Graf Stauffenberg, den wir heute gerne am 20. Juli als Kämpfer für Demokratie feiern, schrieb 1939 zu Beginn des Krieges über seine Eindrücke in Polen an seine Frau:
„Die Bevölkerung hier ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohl fühlt.“
Eine Ablehnung der nationalsozialistischen Rassenpolitik lässt sich hier nicht erkennen und ist offensichtlich kein Motiv für das spätere Attentat auf Hitler.

Das alles zeigt: Der Holocaust kam nicht aus dem Nichts. Der nationalsozialistische Rassenwahn war keine Sache einiger weniger verrückter Naziverbrecher, kein bedauernswerter Ausrutscher in einer sonst ruhmreichen deutschen Geschichte, sondern war leider tief verwurzelt im deutschen Bewusstsein.
Es waren unsere Eltern und Großeltern, ganz normale Menschen aus allen Schichten des Volkes, Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler, Beamte,
Arbeiter, und nicht zuletzt Industrielle, wie Porsche, Piech, Quandt, Flick, Krupp und viele andere. Namen, die heute noch die Rangliste der reichsten Deutschen anführen. Sie alle haben dieses unfassbare Verbrechen des millionenfachen Mordes an unschuldigen Menschen ermöglicht und ohne Skrupel mitgemacht, sei es aus Überzeugung oder nur aus Opportunismus. Auch wenn sie selbst keine Mörder waren, ohne sie hätte die Mordmaschine nicht funktionieren können. Sie alle taten das als gute, pflichtbewusste deutsche Staatsbürger ohne schlechtes Gewissen, weil sie in dem Glauben lebten, „die Juden sind unser Unglück“, wie es ihnen tagtäglich eingebleut wurde.
Nach dem Krieg kehrten die meisten ohne große Schuldgefühle, ohne Reue in ihr „normales“ bürgerliches Leben zurück und machten Karriere als
Unternehmer, Ärzte, Richter oder Beamte. Über die Vergangenheit und die eigene Verwicklung in den Nationalsozialismus legte sich ein Mantel des Schweigens. Die meisten Verbrechen blieben ungesühnt.

Aber: Wer meint, die Vergangenheit, die Schuld und die Verantwortung für die Verbrechen vergessen und verdrängen zu können, der lässt zu,
dass sich Denk- und Verhaltensmuster fortsetzen, schreibt Luisa Neubauer in ihrem Buch „Gegen die Ohnmacht“.

Dass die alten Denk- und Verhaltensmuster weiterleben, das müssen wir leider heute wieder verstärkt erkennen.
Wenn heute in Deutschland wieder Flüchtlingsunterkünfte brennen, dann weckt das böse Erinnerungen. Es muss uns aufgrund unserer Vergangenheit zutiefst alarmieren, dass eine als rechtsradikal eingestufte Partei in den Bundestag und viele Landtage gewählt wird, dass es bei Bundeswehr und Polizei rechtsradikale Umtriebe gibt und dass bei Demonstrationen von Coronaleugnern antisemitische Verschwörungsmythen wieder geglaubt und im Internet verbreitet werden. Corona, Krieg und Klima muten uns viel an Einschränkungen zu und lassen überall den Ruf nach dem starken Mann wieder aufkommen. Überall in Europa und der Welt lässt sich eine beängstigende Renaissance des Autoritären beobachten.

Aber wahr ist auch: Die Mehrheit der Deutschen hat die Lehre aus der
Vergangenheit gezogen.
Die heutige Gesellschaft ist nicht mehr die Gesellschaft des Kaiserreiches. Die Bundesrepublik hat sich alles in allem zu einer demokratischen,
weltoffenen, vielfältigen und empathischen Gesellschaft entwickelt. Jürgen Habermas bezeichnete die Bundesrepublik sogar als eine der weltweit besten Demokratien.
Und Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte kürzlich in einem Interview:
„Die große Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik hat ein normales, gutes Verhältnis zu Juden“.
Auf diese Entwicklung können wir mit Recht stolz sein. Das ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem bornierten, deutschvölkischen
Nationalstolz der Rechten.
Es ist unsere Verpflichtung gegenüber den Toten und unsere Verantwortung für die Lebenden, immer wieder daran zu erinnern, in welchen Abgrund uns Nationalismus und Rassenwahn schon einmal geführt haben.

Wir dürfen dieses Land nicht noch einmal den Rechten überlassen.

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