Rede von Horst Vetter, Sprecher der Stadratsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
„Ich möchte heute an Esther Bejarano erinnern, die Holocaust-Überlebende, die im Juli dieses Jahres im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben ist.
Ich glaube, alle, die sie vor drei Jahren hier bei uns in der Stadthalle erlebt haben, waren beeindruckt, welche Kraft und Vitalität diese Frau ausstrahlte – trotz ihrer schrecklichen Vergangenheit.
Esther Bejarano wurde 1924 als Esther Loewy in Saarlouis geboren. Ihr Vater war dort Lehrer und Kantor in der jüdischen Gemeinde.
Als 14-jähriges Mädchen musste Esther nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 mit ansehen, wie ihr Vater von der SA aus der Wohnung gezerrt und misshandelt wurde, obwohl er als Soldat im 1. Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden war und sich als deutscher Patriot fühlte.
Beide Eltern wurden im November 1941 in Kaunas in Litauen von den Nationalsozialisten ermordet, eine ältere Schwester im Dezember 1942 in Auschwitz.
Sie selbst musste in einem Lager Zwangsarbeit leisten, bevor sie Anfang 1943 im Alter von 19 Jahren ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurde. Dort wurde ihr die Häftlingsnummer 4 19 48 eintätowiert. Ihr Name wurde ausgelöscht. Sie war kein Mensch mehr, nur noch eine Nummer.
Zur Ermordung ihrer Eltern sagte Esther Bejanaro später in einem Interview:
„Wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind – das ist für mich das Schlimmste und viel grauenhafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe.“
Dort überlebte Esther nur, weil sie im Mädchenorchester des Lagers Akkordeon spielte. … „Die SS befahl uns, am Tor zu stehen und zu spielen, wenn neue Transporte ankamen in Zügen, in denen unzählige jüdische Menschen aus allen Teilen Europas saßen, und die alle vergast wurden. Die Menschen winkten uns zu, sie dachten sicher, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. … Wir aber wussten, wohin sie fuhren. Mit Tränen in den Augen spielten wir. .. Das ist das Schlimmste, was mich am meisten bewegt und über die Jahre gequält hat, und das bis heute“, schreibt sie in ihren Erinnerungen.
Nach dem Krieg ging Esther zunächst nach Palästina, zog dann aber 1960 mit ihrem Ehemann, den sie in Israel geheiratet hatte, und ihren zwei Kindern, nach Hamburg, u. a. weil sie mit der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern nicht einverstanden war.
Aber Bejarano erkannte bald, dass die Nazivergangenheit in Deutschland nicht tot war, dass die These von der „Stunde Null“, die die Verbrechen der Nazis als etwas Vergangenes und Abgeschlossenes betrachtete und dagegen das Selbstbild der neuen Bundesrepublik als einer geläuterten, demokratischen Nation in der offiziellen Erinnerungskultur entwarf, nicht stimmte, dass zumindest in Teilen der Gesellschaft der Geist – oder besser der Ungeist – des Rassismus weiterlebte.
Esther Bejarano sah es fortan als ihre Aufgabe an, mit ihren Erinnerungen gegen das Vergessen, besonders bei der Jugend, anzugehen und vor den Gefahren von Rechtsextremismus zu warnen. Es ging ihr dabei um Versöhnung, um das Gemeinsame zwischen den Kulturen, um Verständnis und Verständigung.
Ohne die Singularität des Holocaust zu relativieren, legte sie Wert darauf, die Kontinuitäten und Nachwirkungen des Rassismus des Nationalsozialismus anzuprangern und zu bekämpfen und sich auch mit den Opfern anderer Kulturen zu solidarisieren.
Tatsächlich zieht sich eine blutige Spur des rechten Terrors durch die bundesdeutsche Geschichte, vor zehn Jahren die NSU-Morde an Menschen türkischer Herkunft, im vorigen Jahr die Anschläge in Halle und Hanau gegen jüdische und muslimische Menschen. 228 Tote als Opfer rechtsextremistischer Gewalt seit 1990 nennt der Präsident des Verfassungsschutzes Thomas Haldenwang. Er verweist auf eine zunehmende Zahl von gewaltbereiten Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Gewalttaten.
Ein besonderes Gefahrenpotential für unsere Demokratie sieht er darin, dass immer mehr Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden Polizei und Bundeswehr mit Zugang zu sensiblen Daten und Waffen Umsturzpläne hegen.
Lange hat man diese extremistischen Vorfälle Einzeltätern zuschreiben wollen, ohne sehen zu wollen, dass diese „Einzeltäter“ sich lange vorher im Netz radikalisiert haben und dass ihre Taten dort mit Beifall bedacht werden als „legitime“ Akte des Widerstandes gegen einen angeblichen Unrechtsstaat.
Es ist erschreckend, wie viele Menschen bei den Corona-Leugnern wieder den wildesten, mittelalterlichen antijüdischen Verschwörungstheorien Glauben schenken. Das zeigt, wie gefährdet unsere Demokratie immer ist und immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss gegen ihre Feinde.
In einem Tagesschauinterview beklagte Bejarano noch im vergangenen Jahr, die Zahl der Nazis in Deutschland nehme wieder zu. Sie verwies unter anderem auf die Parteien AfD und NPD.
„Die wollen keine Demokratie. Ich weiß nicht, was werden soll, wenn es noch mehr werden, die so eine menschenverachtende Ideologie haben. Ich weiß nur, was ich gesehen habe. Und ich weiß, was dann kommen wird.“
Vor Schulklassen sagte sie immer wieder: „Ihr seid nicht schuld an dieser schrecklichen Zeit, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über die Geschichte wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.“
In einem letzten Aufruf schrieb Esther Bejarano: „Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg!“
Deshalb ist es wichtig, dass wir hier alljährlich an den 9. November 1938 als den Beginn des Holocaust erinnern und im Sinne von Esther Bejarano ein Zeichen setzen, dass bei uns kein Platz mehr sein darf für Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie. „
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